Betrachtungen über das Nibelungenlied
von Bettina Brueggemann

Es begann mit Wagners "Ring des Nibelungen". Er stellte meine erste Berührung mit germanischer Mythologie dar. Der Maler in mir war fasziniert. Diese mir bis dahin fremde Welt bot ungeahnte Ausdrucksmöglichkeiten, und so entstand ein Zyklus von weit über 60 Bildern .

Wotan, dieser merkwürdige Gott, hatte meine Neugierde geweckt. Ich wollte mehr erfahren. Es begann meine Beschäftigung mit den Quellen: den beiden Büchern der Edda, weiteren Helden und Göttersagen, keltischer und germanischer Mythologie bis zur Runenkunde.

Ich versuchte es unvoreingenommen zu tun, weil ich nicht glaubte, daß man etwas Neues verstehen kann, wenn man es mit Vorurteilen tut.

Und fand eine Welt die ich nicht erwartet hatte, fremdartig und vertraut zugleich. Sie besaß noch dazu ein philosophisches Weltbild, das sich ohne weiteres mit anderen messen kann, und das nach wie vor in vielen Bereichen, wenn auch nur untergründig, wirksam ist.

Es entstand der Wunsch, etwas aus heidnischer Sicht her zu beschreiben, inwieweit es einem heutigen Menschen noch möglich ist. Zumal der Begriff Germanentum meist, entweder unreflektierte Begeisterung, oder unreflektierte Verteufelung hervorruft, ohne daß man wirklich erfährt, worum es da eigentlich geht.

Wagners Ring konnte nicht mehr als Vorlage dienen. So sehr er Stimmungen getroffen haben mochte und sich auch genial mythischer Stoffe bedient hatte, die Grundaussagen, die seinem Ring zugrunde liegen, haben recht wenig mit heidnischer Weltanschauung zu tun.

Da ich aber durch Wagners "Ring" eine Vorliebe für die Gestalten Wotans, Hagens und der Walküre hatte, lag die Wahl des Nibelungenliedes am nächsten.

Dafür sprach auch die deutliche Ähnlichkeit mit dem bekanntesten Lied der Edda, der Völuspa, der Seherin Gesicht, das vom Anfang der Welt spricht, bis zu dem als Götterdämmerung bekannten Ende. Das Nibelungenlied wirkt dabei in großen Teilen wie eine Verlagerung der Götterdämmerung auf die Ebene der Erde. Sein Ursprung aus heidnischer Wurzel war damit gewiß. Ihm wollte ich nachforschen.

Dort wo die Eiswelt Nifelheims und die Feuerwelt Muspelheims zusammenfließen entstehen die gemäßigten Breiten, die günstig dem Leben sind. Mit den beiden gegensätzlichen Polen zusammen besteht der germanische Kosmos aus neun Welten. In Wanenheim wohnt das Göttergeschlecht der Wanen, in Asgard das Göttergeschlecht der Asen. Midgard, der mittlere Garten, ist die Welt der Menschen. Helheim, das eine Totenreich der Germanen untersteht der Hel. Lichtalbenheim ist das Reich der Lichtalben, Schwarzalbenheim das der Zwerge. Jötunheim ist ein Reich der Riesen. Die Nornen, die Schicksalsgöttinnen, stehen für sich.

Die neun Welten sind miteinander verbunden und stehen im Austausch. Das zeigt sich in einer ausgeprägten Reiselust. Die Zwerge reisen zu den Göttern, die Götter zu den Riesen, Die Nornen nach Asgard, Wotan nach Helheim. Es ist offensichtlich Gang und Gebe, sich gegenseitig zu besuchen. In Midgard selbst, der Welt der Menschen, wandeln Riesen, Zwerge, Götter, Alben, Walküren, um nur einige zu nennen, wie es auch in Sagen und Märchen erzählt wird. Es sind also wortwörtlich Gott und die Welt unterwegs.

So ist Midgard nicht nur von den Menschen, sondern auch von den äußerst unterschiedlichen Geistwesen der anderen Welten beseelt. Heiden brachten der Natur eine vollständig andere Achtung entgegen als heute üblich. Sie wollten die Wesen nicht beleidigen, die sie beseelten. Da der Mensch selbst ein Geistwesen ist, ist er gleichfalls in der Lage, die anderen Welten zu bereisen. Er muß dabei seinen Körper zurücklassen. Wie ihm das gelingt, lehren die Runen.

Stirbt ein Mensch so wird er zu einem Totengeist. Da er seinen Körper verloren hat, fällt ihn das Reisen in die anderen Welten leichter. Will ein Mensch erneut geboren werden, muß er bei der Hel aus den Brunnen des Vergessens trinken.

Die Welten sind beständig im Fluß.

Aufgrund der deutlichen Eigenständigkeit der verschiedenen Welten, beruht das Wirken der Götter auch nicht auf Befehlsgewalt. Man wird nicht finden, daß sie einem Riesen, einem Zwergen, oder gar einem Menschen etwas befehlen, dieses Verhalten ist ihnen fremd. Aber gerade weil sie Götter sind, fällt ihnen die schwerste aller Aufgaben zu: Der Erhalt der Ordnung, das Halten des Gleichgewichtes zwischen den Welten.

Als es den Göttern nicht mehr gelingt, die Welten zu ordnen, brechen aus den Feuerwelten Muspelheims die Surtriesen und aus den Eiswelten Nifelheims die Reifriesen auf, um gegen Asgard, den Sitz der Götter, zu ziehen. Es kommt zum Weltenbrand, der sich im Nibelungenlied im kleinen, im Brand der Halle Etzels, wiederholt.

Im zunehmenden Chaos, das von den Riesen erzeugt wird und für das sie auch sinnbildlich stehen, erfolgt der Endkampf der Riesen gegen die Götter, mitsamt beider Verbündeter, bis sie sich gegenseitig vernichtet haben, so wie es im Nibelungenlied ebenfalls geschieht. Allerdings scheinen die weiblichen Gottheiten dabei keinen Schaden zu nehmen, was man von den Frauen des Nibelungenliedes nicht behaupten kann.

Bei beiden Epen wird bei den Hauptfiguren erwähnt, wer gegen wen kämpft, und von wem gerächt wird.

Als eine neue Welt entsteht, kehrt aus dem Totenreich der lichte Gott Baldur zurück, um sie aufs neue zu ordnen.

Auch hier gibt es eine Parallele zu der vom Mittelalter als am lichtesten empfundenen Heldenfigur, der Dietrich von Berns. Insoweit ist es von Hebbel in seiner Nibelungendichtung konsequent zu Ende gedacht, wenn der Hunnenkönig Dietrich von Bern die Herrscherkrone aufs Haupt setzt - was er nie getan hat - damit er sich mit dem Regieren plagen soll.

Aber wodurch kam es zum Verlust der Ordnung, zum Verlust des Gleichgewichts?

Es beginnt mit einem Betrug.

In der Edda ist es der Betrug an dem riesischen Baumeister, der Walhall baut, im Nibelungenlied der Betrug an der Walküre Brünnhild.

Dem Betrug dann folgt das Unvermeidliche, es kommen Mord, Krieg, Raub, Meineid in die Welten, dem ein gewaltiger Verfall der Sitten folgt, der in der Edda mit den Worten beschrieben wird:

Brüder kämpfen und bringen sich Tod
Brüdersöhne brechen die Sippe
arg ist die Welt, Ehbruch furchtbar
Schwertzeit, Beilzeit, Schilde bersten
Windzeit, Wolfszeit, bis die Welt vergeht -
nicht einer will des anderen schonen.

So weit kommt es nicht im Nibelungenlied, aber die Weichen sind eindeutig gestellt.

So viel zum Untergang.

Es ist charakteristisch für germanisches Denken, daß nicht nur der lichte Gott Baldur, sondern auch sein Mörder Hödur, der Gott der Finsternis, nach Asgard, dem Sitz der Götter, zurückkehrt.

Gemeinsam werden sie im Siegsaal wohnen.

Beide waren sie im Totenreich der Göttin Hel, aus der später die Hölle wird, sicher vor der Götterdämmerung. Mit ihnen kehren, die sich gegenseitig bedingenden Gegensätze, Licht und Dunkelheit, zurück.

Zu Mittsomnmer wird der Sommergott Baldur von dem blinden Wintergott Hödur getötet. Zur Wintersonnenwende, zur der Zeit, da in etwa die Götterdämmerung endet, und die Tage wieder länger und heller werden; kehrt der Licht- und Sonnengott Baldur aus dem Totenreich zurück. In diesem Mythos ist die Naturbetrachtung sehr deutlich. Und er floß auch einst ein in die Tötung Siegfrieds durch Hagen. Für meine Bearbeitung der Figur Hagens war er aber nicht ausschlaggebend. Bei weitem mehr Ähnlichkeiten hat Hagen mit Wotan selbst.

Beginnen wir mit ihrer äußeren Erscheinung.

Der nachtblaue Umhang Wotans symbolisiert den nächtlichen Aspekt des Gottes. Er findet sich im dunklen und düsteren Wesen Hagens wieder, der Tronjer ist häufig schwarz gekleidet. Beide werden mit geflügeltem Helm dargestellt.

Die rituelle Waffe beider ist der Speer.

Beide sind einäugig.

Wotan verpfändet sein eines Auge an den weisen Riesen Mimir, um einen Schluck, aus dem von ihn gehüteten Brunnen der Weisheit und der Erinnerung zu tun. Hagen verliert gleichfalls ein Auge und teilt daraufhin Wotans Einäugigkeit.

Die Einäugigkeit steht für Wissen, für die geistige Kraft. Wotan ist der weise Ase, wie Hagen der weise Ratgeber der Burgunder ist. Der höchste Gott der Germanen, ist nicht allwissend, als Wanderer bereist er die neun Welten, um Wissen zu erfahren und um es weiterzugeben.

Beide sind zauberkundig und bedienen sich dessen auch, vor allem, um weibliches Wissen zu gewinnen. Wotan reitet zu dem Grabhügel einer toten riesischen Seherin, einer Wölwa, an den Grenzen Helheims. Mittels eines Runenzaubers gelingt es ihm nicht nur, sie zu erwecken, sondern auch, was offensichtlich schwerer ist, sie über die Zukunft zu befragen.

Wölwa: Genötigt sprach ich; nun will ich schweigen.
Wotan: Schweig' nicht Wölwa! Ich will dich fragen,bis alles ich weiß.

Hagen raubt drei badenden Schwanenjungfrauen ihr Gefieder und ist nur bereit, es zurückzugeben, wenn sie ihm gleichfalls die Zukunft weissagen.

Was vorher Ahnung war, wird da Gewißheit.

Beide wissen um den Untergang.

In heidnischen Schriften hat eine Verbindung Tradition, die als charakteristisch gelten kann für heidnisches Denken, die zwischen dem Zauberer und dem König. Der Zauberer selbst ist dabei der Ratgeber, dessen Rat man besser befolgt.

Die wohl bekannteste Verbindung dieser Art, ist die zwischen dem Druiden Merlin und König Artus.

Sie besteht auch zwischen Wotan und dem starken Gott Thor, der, als Freund der Menschen, beständig gegen die Gefahr der Riesen kämpft.

Wotan, der Runenmeister, ist ein Zauberer.

Und sie findet sich auch zwischen Hagen und König Gunther.

Hagen ist runenkundig, sonst hätte er die Schwanenjungfrauen nicht befragen können. Im Nibelungenlied verfügt er über ungewöhnliche Fähigkeiten, er weiß alles, und er durchschaut jeden Plan. Keiner ist so gut informiert wie er. Hagen, der Ratgeber, ist in der Tradition der Zauberer zu sehen.

Aber was sind Zauberer und was machen sie? Bekannt ist, daß sie Zauberzeichen verwenden. Im germanischen Fall wären das die Runen.

Ich will hier einen sehr einfachen Vergleich wagen, der aber einiges erhellt, den Vergleich zum Internet.

Der heidnische Kosmos der neun Welten ist miteinander verbunden und steht im Austausch. Er stellt damit ein System der Vernetzung und der Kommunikation dar. Im Gegensatz zum Internet, das nur auf der Ebene Midgards wirkt, hätten wir es dann wirklich mit "weltenweiter" Vernetzung zu tun.

Wer sich im Internet eines Programmes bedienen oder eine Nachricht versenden will, braucht das Schlüsselwort. Umgekehrt ist es genauso. Insoweit sind Schlüsselwörter Zauberwörter, sie öffnen Tore. Zwar kann es auch sein, daß man zufällig in ein Programm hineingerät; aber Zufälle sind nicht wiederholbar und insoweit für einen Zauberer wenig brauchbar.

Als Zauberwörter dienen die Runen. Sie öffnen die Tore zu anderen Welten. Zum einen, um Informationen zu gewinnen, zum anderen, um Nachrichten gezielt zu versenden und umgekehrt.

Runenkundige Wesen finden sich in allen neun Welten. Es gibt runenkundige Zwerge, Alben und Riesen, zum Teil besitzen sie auch noch ihre eigenen Runen.

Der Vergleich zum Internet drängt sich da geradezu auf.

Zauberer sollen nie selber Könige sein. Diese Konzentration von Macht galt als unheilvoll für alle, einmal abgesehen davon, daß die Aufgabe eines Königs völlig anders ist, als die eines Zauberers.

Das würde erklären, warum Hagen, obwohl er im Verlauf des Nibelungenlieds eindeutig die dominantere Figur ist, nicht ein einziges Mal nach Gunthers Königskrone schaut.

Wir finden in den heidnischen Mythen keinen Hinweis auf absolutistisches Herrschertum. Es ließe sich bei diesem Weltbild auch gar nicht verwirklichen.

Erst mit dem Christentums findet sich eine Legitimation für diktatorisches Verhalten, in dem ein Gott, dazu noch der einzige, alles Wissen besitzt und alle Macht in den Händen hält.

Betrachtet man die Ähnlichkeiten zwischen der Seherin Gesicht und dem Nibelungenlied, so stellt sich unvermittelt die Frage, wer sind die Riesen?

Bedenkt man, woran das Heidentum unterging, so muß es sich dabei um das Christentum handeln.

Wenn man die Konstellationen im Nibelungenlied danach untersucht, finden sich klare Fronten. Auf christlicher Seite stehen Siegfried und Kriemhild, auf heidnischer Hagen und Brünnhild, dazwischen steht König Gunther.

Hagens heidnische Züge sind unverkennbar. Er bekräftigt sie auch noch, als er bei der Flußfahrt auf dem Zug zu Etzel, kurzerhand den Pfaffen über Bord wirft, bezeichnenderweise der einzige der lebend zurückkehrt. Brünnhilde, die Walküre, muß heidnisch sein, auch wenn ihr Walkürenglanz schon gewaltig verblaßt ist.

Nach meiner Beschäftigung mit den Mythen konnte ich zwischen christlicher und heidnischer Vorstellung in entscheidenden Punkten keine großen Gemeinsamkeiten mehr finden. Danach mußten sie irgendeinmal zusammenstoßen. Und genau das ist im Nibelungenlied der Fall.

Unter diesem Gesichtspunkt habe ich meine Nibelungendichtung gestellt.

Das Nibelungenlied zeigt für mich hauptsächlich den Kampf zwischen zwei Weltanschauungen, von denen sich die eine in der Halle Etzels mit Karacho verabschiedet. Wenn man will, die letzte Möglichkeit nach Walhall zu kommen, bevor nur noch die Wahl bleibt zwischen Himmel und Hölle.

Aber wie will ich das beweisen?

Beginnen wir mit Siegfried und Kriemhild, dem eindeutig christlichen Paar, nicht alleine deshalb, weil sie in der Kirche heiraten.

Kriemhild stellt den klaren Übergang vom heidnischen Sippenrecht, zum christlichen Gattenrecht da. Sie fühlt sich ab jetzt nur noch ihrem Gatten, nicht mehr ihrer Sippe verpflichtet und beweist das auch tatkräftig, indem sie sie vernichtet.

Noch ein anderes Detail, daß man leicht übersieht, ist sehr aussagekräftig. Siegfried schlägt sie grün und blau, nachdem sie den Mund nicht halten konnte, wo er es selbst nicht konnte, und Kriemhilde akzeptiert das sogar. So ein Verhalten wäre bei Brünnhilde unvorstellbar. Schon Tacitus beschreibt verwundert die hohe Achtung, die die Germanen ihren Frauen entgegenbringen. Betrachtet man die heidnische Schöpfung der Menschen, erscheint es nicht mehr erstaunlich.

Bis drei Asen aus dieser Schar
stark und gnädig zum Strande kamen
sie fanden am Land ledig der Kraft,
Ask und Embla ohne Schicksal

Nicht hatten sie Seele, nicht hatten sie Sinn,
nicht Lebenswärme noch lichte Farbe;
Seele gab Odin, Sinn gab Hönir,
Leben gab Lodur und lichte Farbe

Mann und Frau entstehen aus unterschiedlichen Bäumen. Wer hier nach der weiblichen Gottheit fragt, wird sie auch finden, sie liefert die Materie. Man sollte das nicht gering schätzen, denn ohne Körper, wäre der Mensch in Midgard nicht in der Lage, auch nur den geringsten seiner Gedanken in die Tat umzusetzen. Was die Götter ihnen geben, macht sie von Anfang an gleichrangig. In der christlichen Schöpfung ist das nicht der Fall, hier wird von vornherein die Vorherrschaft des Mannes zementiert. Wie es auch deutlich in der Beziehung zwischen Kriemhilde und Siegfried der Fall ist. Kriemhilds Bedeutung hängt von dem Mann ab, den sie heiratet. Vor ihrer Hochzeit ist sie nur darauf bedacht, schön, bescheiden und tugendsam zu sein. Wenn man darin schon eine Persönlichkeit erkennen will, dann doch zumindest eine sehr farblose.

Siegfried selbst ist durch die Jahrhunderte immer mehr bis zur Unkenntlichkeit geschönt worden, nehmen wir einmal das Verprügeln von Frauen und das Vergewaltigen von Walküren, was nach heidnischer Vorstellung gar nicht ausführbar wäre, beiseite. Das ist auch im Nibelungenlied, das von einem Geistlichen niedergeschrieben wurde, der Fall. Eine Stelle allerdings, die ich in meinem Werk fast wörtlich beibehalte, zeigt ihn als richtigen Unsympathling. Als Begründung sozusagen fordert er von König Gunther mit völliger Selbstverständlichkeit sein Reich. Mit anderen Worten sagt er, daß ich der Größte, Schönste und Stärkste bin, dazu noch unbesiegbar, da ich unverwundbar bin, hat mir ab jetzt, alles zu gehören. Eine wahrhaft kühne Argumentation. Der Hof von Worms bekommt daraufhin vor Erstaunen erst einmal den Mund nicht zu, was zeigt, das dieses Verhalten durchaus nicht üblich war.

Aber warum läßt der Dichter Siegfried, den er sonst in den edelsten Tönen beschreibt, solche Dinge sagen und baut sie auch noch aus.

Es wird nur verständlich, wenn er dadurch ein Verhalten legitimieren will. Was er hier jedoch legitimieren will, ist eine äußerst imperialistische Vorgehensweise.

Der christliche Gott allerdings machte es selber schon vor, in dem er die Bereiche aller anderen Götter und Göttinnen an sich riß, bis nur noch er übrig blieb.

Danach ist es fast schon selbstverständlich, daß das Christentum, als die beste, weiseste und unanfechtbarste Religion, als die es sich verstand, das gottgegebene Recht hat, jeden zu christianisieren, ob er nun wollte oder nicht. Das Vorgehen mit Feuer und Schwert belegt das dann auch. Politisch bedeutet das, alles was heidnisch ist, darf bedenkenlos erobert werden.

Für das heidnische Denken muß das ein Schlag ins Gesicht gewesen sein.

Seine Weltanschauung beruht auf ausgeprägter Gewaltenteilung. Diese Gewaltenteilung sichert einen großen Bereich persönlicher Freiheit. Der Kampf um die eigene Identität mußte damit beginnen.

Die Konfrontation zwischen Hagen und Siegfried ist somit unumgänglich.

Gunther selbst kann darin nicht mehr teilnehmen, weil er in der Suppe sitzt, die er sich selber eingebrockt hat. Hagen hat nach dem Wettkampf mit Siegfried die Erfahrung gemacht, von Siegfried körperlich besiegt worden zu sein. Brünnhilde ist durch den Betrug ausgeschaltet.

Nach Siegfrieds Vision einer Alleinherrschaft wird auch sein Verhalten der Walküre gegenüber schlüssig. Sie steht seinen Vorstellungen im Weg.

Aber was sind Walküren?

Das wohl bekannteste an ihnen ist, daß sie die gefallenen Helden nach Walhall geleiten. Aber schon hier fehlt die Hälfte.

Wohl gelangt der eine Teil nach Walhall in die Halle des Asen Wotan, die andere Hälfte aber gelangt zur Wanin Freya, der Liebesgöttin, die bezeichnenderweise selbst eine Walküre ist. Auch von der Norne Skuld, der Schicksalsgöttin der Zukunft, wird das behauptet. Den Schicksalsmächten verwandt finden sich häufig Walküren, die die Zukunft voraussagen können. Die Walküren entscheiden über den Ausgang der Schlacht und walten über Sieg und Tod, dafür reichen sie dann den Gefallenen in Walhall und in Freyas Saal das Trinkhorn.

Wer eine Walküre für sich gewinnen kann, der hat Rat und Lehre gewonnen und auch ihren Schutz.

Sie sind in der Lage alle neun Welten zu bereisen und sind als solche Mittlerinnen zwischen den Menschen und den Göttern. Das "Geleiten nach Walhall" beruht darauf. So einfach es auch klingen mag, sie kennen den Weg dorthin, die Toten aber nicht. Wie Wotan sind sie runenkundig und unterweisen die Menschen darin als Lehrmeister. Im "Sigrdrifumal" weckt ein noch sehr heidnischer Siegfried die Walküre Brünnhild, damit sie ihn darin unterrichte. Die Runen haben zum Teil sehr praktische Aspekte, wie Heilung, Schutz, Liebesglück, um nur einige zu nennen, sie sind aber auch dazu da, um in Austausch zu treten, mit den geistigen Aspekten aller neun Welten.

Wenn es in alten Mythen um den Kampf geht, sollte man nicht den Fehler begehen, darunter nur den körperlichen und nicht auch den geistigen zu sehen.

Die Walküren haben im germanischen Weltbild eine durchaus nicht geringe Bedeutung.

So gesehen ist die Überwindung Brünnhilds durch Siegfried weit mehr als nur der Kampf zwischen einem Mann und einer waffentragenden Frau. Er symbolisiert das Unterliegen heidnischer Weltanschauung gegenüber der christlichen, und er zeigt auch zwei Züge, die in der christlichen Lehre immer wieder zu finden sind, Intoleranz und Frauenfeindlichkeit.

Brünnhilde selbst ist danach gebrochen. Sie hat nach dem Betrug die Macht und Eigenständigkeit, die ihr Eigen waren verloren. Daß sie sich nur rächt, weil Siegfried Kriemhilde und nicht sie geheiratet hat, kann demnach nur als Jux bezeichnet werden. Unterstreicht aber die Verständnislosigkeit für das Drama Brünnhildes. Aber die Überwindung der Walküre hat noch eine andere Bedeutung, mit ihr bricht eine Brücke weg zu den Göttern.

Zwischen den beiden Polen steht die Gestalt, die den fatalsten Fehler begehen wird, König Gunther. Warum König Gunther diesen Fehler überhaupt begeht, ist einer der rätselhaftesten Punkte des Nibelungenlieds.

Zwar gibt es auch in der Mythologie eine Figur, die Lokis, die zwischen den Göttern und den Riesen steht und maßgeblich an der Götterdämmerung beteiligt ist. Aber Lokis Verhalten ist bedeutend reflektierter und schlüssiger, wogegen Gunthers Verhalten seltsam unbedacht wirkt. Von seinem sonstigen Wesen her ist König Gunther der heidnischen Weltanschauung weit näher. Das zeigen die Beratungen in Worms. Ihr Ablauf gleicht dem des heidnischen Things. Bei einem Thing hat jeder der Anwesenden das Recht seine Ansicht zu äußern, erst dann wird entschieden. Auch in Worms herrscht Meinungsfreiheit.

Ein weiterer Bezug ist die Ähnlichkeit zur keltischen Artussage. Merlin der Zauberer rät König Artus von einer Heirat mit Genoveva ab, da sie den Untergang bringen würde. Es wird das einzige Mal sein, daß König Artus den Ratschlag seines Druiden nicht befolgt, mit einer fatalen Wirkung für ihn.

Auch Hagen wird Gunther abgeraten haben, Brünnhilde zu freien, obschon es im Nibelungenlied gern anders beschrieben wird. Die Tatsache, daß Gunther sie nicht aus eigener Kraft gewinnen kann, bedeutet, daß sie ihm nicht bestimmt ist. Daß Hagen von den Betrug gewußt hat, erscheint zweifelhaft, aber noch zweifelhafter, daß er dazu geraten haben soll. Der Betrug an einem so hohen Geistwesens, wie es die Walküre darstellt, die noch dazu in Verbindung zu den Göttern steht, kann nicht das Thema einer öffentlichen Besprechung gewesen sein. So etwas kann nur in einer Katastrophe enden, und ich bezweifle, daß den Burgundern so sehr an ihrem Untergang gelegen war. Den germanischen Göttern zumindest war daran nicht gelegen. Eine geheime Übereinkunft zwischen Gunther und Siegfried, der klare Beweggründe besitzt, erscheint da viel wahrscheinlicher, König Gunther selbst leidet nach dem gelungenem Betrug an latenten Schuldgefühlen und beweist es gerade dadurch, daß er autoritärer wird und nicht mehr auf Hagens Rat hört. Als König hätte er in einer Sache, die alle betrifft, nicht aus rein privaten und egoistischen Motiven handeln dürfen. So gilt Hagens Treueschwur auch Brünnhilde, nicht ihm.

Der Kampf der Burgunder in Etzels Halle, steht somit nicht für Sippenrecht alleine, wo der eine für den anderen einsteht, er ist weit mehr dem Motiv der Götterdämmerung verpflichtet. Mit diesem Kampf verabschiedet sich die heidnische Welt, symbolisch noch verstärkt durch die Köpfung des gebundenen Hagens durch Kriemhild.

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